Grenzüberschreitung und Wandlung. Zur Bilddramaturgie des Jakobkampfes in der Wiener Genesis

 | Friday, 04.10.2019 Theorien des Liminalen

Grenzüberschreitung und Wandlung. Zur Bilddramaturgie des Jakobkampfes in der Wiener Genesis

Die wohl bekannteste Miniatur der sog. Wiener Genesis, einer prachtvoll illuminierten Bibelhandschrift der Spätantike (Wien, ÖNB, Cod. Vindob. theol. graec. 31, S. 23), zeigt, wie der Patriarch Jakob mit seiner Familie in sein Heimatland zurückkehrt und am Fluss Jabok mit einem Unbekannten kämpft (Gen 32, 24-28). Die gefahrvolle Überquerung des Flusses markiert den kritischen Moment der Erzählung und führt zur Wandlung des Hauptprotagonisten: Nach bestandenem Kampf wird Jakob von seinem Gegner gesegnet und erhält einen neuen Namen („Israel“).
Die entsprechende Miniatur in der Wiener Genesis hat die kunsthistorischen Interpreten seit jeher beschäftigt und herausgefordert, zeigt sie doch nicht nur die „seltsamste Brücke der Antike“ (Clausberg), sondern auch eine merkwürdige Überblendung von Figuren und eine verwirrende Aneinanderreihung von Szenen ohne klar erkennbare Zäsuren. So besteht in der Forschung bis heute keine Einigkeit in der Frage, wie viele Einzelepisoden in dieser Miniatur überhaupt identifiziert werden müssen. Sind es nun drei (Stephan-Maaser), vier (Gerstinger) oder fünf Szenen (Mazal)? Oder sollte man auf diese Art von kunstwissenschaftlicher „Bildzerlegung“ (Clausberg) generell verzichten?
In dem Vortrag soll eine Einteilung der Miniatur in drei Phasen vorgeschlagen werden, die der spezifischen Bilddramaturgie der Grenzüberschreitung und Wandlung – dem liminalen Charakter der Darstellung – gerecht wird. Dabei wird gezeigt werden, dass die Sequenz Übereinstimmungen mit der Phasenstruktur der sog. „Übergangsriten“ (rites des passages) aufweist, einem in Ethnologie, Anthropologie und Kulturtheorie geläufigen Konzept, das auf  Arnold van Gennep zurückgeht und später von Victor Turner weiterentwickelt wurde.
Dieses Dreiphasenschema bietet sich als heuristisches Beschreibungsmodell insofern an, als es – im Gegensatz zu traditionellen Bildanalyse in der Tradition Weitzmanns – gerade nicht die Komplexität der Bildstruktur zerstört, sondern die einzelnen Bildphasen in ihrer spezifischen Interdependenz untersucht und als Teile einer dynamischen Sequenz begreift.
Dabei soll gezeigt werden, dass die Darstellung der Flussüberquerung und des Kampfes in der Wiener Genesis die eigentliche liminale Phase (rites de marge, liminal period) veranschaulicht und dabei die charakteristischen Merkmale einer Grenzsituation vor Augen führt: So kennzeichnen die bildlogischen Verwirrungen und Verdrehungen den unsicheren Status des Übergangs und die Ambiguität einer Figur in Wandlung.