Fliehkräfte des Sinns. Über Werkränder als Schwellenräume

 | Friday, 04.10.2019 Theorien des Liminalen

Fliehkräfte des Sinns. Über Werkränder als Schwellenräume

Wo von Schwellen oder Übertrittszonen in der Kunst die Rede ist, denkt man zuerst an  entsprechende Darstellungen, womöglich atmosphärische Szenerien oder vielleicht Sujets mit bedeutungsträchtigen Rückenfiguren.
Doch ist es ebenso möglich, dass Kunstwerke gleichsam gegen sich selbst, nämlich ihren eigenen Rand als der Schwelle zu ihrem Außen angehen: etwa indem Bildfiguren illusionistisch vorgeben, eine solche Schwelle zu überschreiten wie beispielsweise der Typus des sog. entschwindenden Christus in meist volkstümlichen Himmelfahrtsdarstellungen; oder indem die Schwelle zum Außen tatsächlich überschritten wird. Anfangs geschah dies eher nur im Binnenformat, das in der frühen Buchmalerei punktuell ausgewölbt sein konnte, das mitunter sogar als motivisch durchbrochen inszeniert wurde. Aus der Zeit des Manierismus kennt man die entleerten, dafür desto mehr mit ihrem überhandnehmenden Rand prunkenden Kartuschen. Schließlich hat sich in moderner bis jüngster Kunst längst eine regelrechte Topik des Unvernehmens, des Nichteinverstandenseins der Werke mit einer von ihnen als restriktiv geschmähten Rahmensituationen ihrer Darbietung etabliert.
Wohlgemerkt handelt es sich beim infragestehenden Phänomen weder um die vielbeschworene Tendenz zur ‘Entgrenzung’, also Diffusion von Kunst in Kunstexternes oder in Nachbarkünste, noch auch um allbekannte Überschreitungen der sog. ‘Ästhetischen Grenze‘ als eines Drängens insbesondere nach vorne übers Bild hinaus in den Betrachterraum.
Vielmehr haben wir es hier mit einem emphatischen Andrängen der Kunstwerke gegen ihr eigenes Außen im Rahmen eben dieses Außen zu tun. Sinn verschiebt sich im Zuge dessen gleichsam in die Peripherie der Werke, wo man von einem Aufenthalt im Übertritt sprechen könnte. Just diese Figur gilt es zu deuten.